Gießen? Gießen!

Die „ZEIT“ gibt quasi den Takt vor: „Gießen! Gießen! Gießen! (Wo genau war das noch mal?)“, dröhnt die Wochenzeitung aus Hamburg im Kurznachrichtendienst Twitter und bewirbt so einen bemerkenswerten Artikel in ihrem Blatt.

Gut, den Hanseaten mag man nachsehen, wenn sie nachfragen müssen, wo Gießen genau liegt, für alle anderen aber, die es auch nicht so recht wissen, hier trotzdem eine grobe Verortung: Zwischen den ungleich bekannteren Ortschaften Heuchelheim und Lich. Aus erstgenannter Gemeinde stammt Til Schweiger, in zweitgenannter Stadt wird das Licher Bier gebraut, das ja bekanntlich „aus dem Herzen der Natur“ kommt.

So, jetzt aber zu dem ungeheuren Bedeutungsschub, den Gießen durch die „ZEIT“ bekommen hat: Berlin als Deutschlands Hauptstadt sei ja wohl ein schrecklicher Irrtum, behauptet der Autor und präsentiert vier Alternativen: Baden-Baden, Bonn, Dresden und – jetzt werden Sie es wohl ahnen – Gießen.

Auf so eine Idee wäre man nun nicht unbedingt gekommen, oder? Vor allem nicht als Leser einer Frankfurter Zeitung.

Weil wir Deutsche zu viel Einfluss in Europa hätten, sei „brutale“ Zurückhaltung besser, findet das Blatt. (Brutalstmögliche Zurückhaltung hätte Roland Koch wohl gesagt.) Deshalb also Mittelhessen, das hieße „den Wahnsinn runterdrosseln.“ Gießen sei der Schläfer unter den deutschen Städten, der aber nie aufwache. Und weiter: „Gießen ist der analphabetische Schwippschwager von Frankfurt, den man, kurz bevor das Familienfoto gemacht wird, vom Sofa drängelt.“ Meine Güte!

Nun, Hauptstadt wird Gießen wegen dieses Vorstoßes aus der Journaille wahrscheinlich doch nicht, aber mit einem anderen Titel darf sich die Stadt immerhin schmücken: „Top-Sitzenbleiber-Hochburg“.

Laut der Erhebung eines Internetvergleichsportals in 122 deutschen Städten blieben im Schuljahr 2014/15 in Gießen 3,2 Prozent aller Schüler sitzen, insgesamt 357 von 11.123 in allen Schulformen. Und das in der Universitätsstadt! Das macht Platz 13. Mehr Schüler bleiben demnach sonst nur in bayerischen Städten sitzen und in – Hanau. Tja, etwas seltsam das alles, oder? Aber das Vergleichsportal heißt ja auch „billiger.de“… Zu plakativ, winkt man im Kultusministerium ab.

Aber es gibt ja noch viel mehr aus der mittelhessischen Metropole zu berichten. „Gießen verklagt 13 Bundesländer“ titelt die „Gießener Allgemeine“. Respekt! Das tut nun auch nicht jede 80 000-Einwohner-Stadt. Hessens Finanzminister Thomas Schäfer verklagt den VW-Konzern „nur“ auf 3,9 Millionen Euro, Gießen verlangt 14 Millionen. Und warum? Weil die anderen Bundesländer Gießen schnöde bei der Erstattung der Kosten für die Betreuung minderjähriger Flüchtlinge hängen lassen, schreibt das Blatt. 16,7 Millionen habe die Stadt für die Inobhutnahme in ihrer Clearingstelle zur Aufnahme minderjähriger Ausländer bei verschiedenen Landesbehörden geltend gemacht noch keine drei Millionen seien gezahlt worden. Also wird geklagt. Recht so.

Ja, und dann meldet das Statistische Landesamt auch noch, die Stadt Gießen habe mit 38,5 Jahren im Durchschnitt die jüngste Bevölkerung in Hessen. Super. Wenn die Gießener Kinder nur nicht alle Sitzenbleiber wären…

 

Erschienen Frankfurter Neue Presse vom 21. September 2016

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