Durch die Fischbrille

Es herrscht derzeit eine geradezu gespenstische Ruhe an der Nachrichtenfront. Wo uns die Parteien sonst mit sinnigen und unsinnigen Meldungen überhäufen, erreicht uns momentan – fast nichts. Allen liegt das schwierige Wahlergebnis vom vorvergangenen Sonntag im Magen, überall erwägt man nun, wer mit wem spricht, und in welcher Reihenfolge wer wen einlädt.

Alles wird dabei komplizierter, ein Gespräch ist schon lange nicht mehr nur ein Gespräch, sondern Objekt höchster Interpretationskunst. Früher gab es nach der Wahl Koalitionsgespräche zweier regierungswilliger Parteien. Sprich, es wurde besprochen, was zu tun ist, und wer Minister und Regierungschef wird. Inzwischen gibt es regelmäßig erstmal Sondierungsgespräche. Da wird besprochen, ob es sich überhaupt lohnt, Koalitionsgespräche zu beginnen. Die SPD hat jetzt noch eine dritte Vorstufe eingeführt. In einem am Samstag beschlossenen Programm erklären sich die Genossen bereit, „mit allen im Landtag vertretenen Parteien in Gespräche zu treten“. Und, Achtung, jetzt kommt’s: „Dabei kann es in einem ersten Schritt nur um die Klärung der Voraussetzungen für mögliche Sondierungen gehen.“

Haben Sie das verstanden? Man spricht also darüber, ob man darüber sprechen will, ob man zusammen regieren will.

Da muss man schon wirklich sehr genau lesen. Helfen könnten hierbei vielleicht die tollen Produkte, auf die uns die Hessen Trade& Invest GmbH hinweist, die Wirtschaftsfördergesellschaft des Landes Hessen. „Lampen aus Kaffeesatz und Brillen aus Fischschuppen“ seien auf deren Veranstaltungsreihe „Material formt Produkt“ vorgestellt worden, schreibt uns die Tochtergesellschaft der Hessen Agentur. Die Brille aus Fischschuppen könnte uns zumindest dabei helfen, den Kaffeesatz bezüglich möglicher Regierungsbündnisse in Hessen im rechten Licht zu lesen.

Es geht im übrigen doll weiter, mit dem was Experten zum Thema „Einsatzmöglichkeiten nachwachsender Rohstoffe in der industriellen Biotechnologie“ gestern bei der Hessen Trade& Invest so präsentiert haben. Reißfeste Fasern aus Spinnseidenfäden, Industrieklebstoffe aus der Miesmuschel, Dämmmaterial aus einer Seegraspflanze namens Neptunball und Solarzellen aus Traubensaft. War gestern eigentlich der 1. April oder 1. Oktober?

Ob uns nun die Brille aus Fischschuppen wirklich den Durchblick in der verworrenen politischen Situation bringt, ist wohl zu bezweifeln. Zumindest böte sie aber eine Erklärung für das Sprichwort „Der Fisch stinkt vom Kopf“. Die Muttergesellschaft Hessen Agentur war immer schon für einen Knüller gut – erinnert sei an die sogenannte Hessen-Praline: eine Schokoladenkugel gefüllt mit Grüner Soße!

Klar ist aber immerhin, bei allem was sonst unklar ist, eines: Egal wer mit wem (oder auch nicht) in Hessen regiert, das Kabinett bleibt nicht so wie es ist. So viel lässt sich gewiss sagen. Die drei FDP-Minister sind auf jeden Fall raus. Manch CDU-Minister steht auch auf tönernen Füßen und gestern hat sich die erste Staatssekretärin abgesetzt. Frau Professor Doktor Louise Hölscher zieht es aus dem Wiesbadener Finanzministerium nach London, wo sie Vizepräsidentin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wird.

Das ist wohl auch eine schönere Aufgabe für die Steuerexpertin mit CDU-Parteibuch als Grußworte in der hessischen Provinz anlässlich der Übergabe von Förderbescheiden zu sprechen. Und last but not least, die Engländer befüllen ihre Pralinen nicht mit einer Kräutertunke, sondern – zumindest in der After-Eight-Variante – mit Pfefferminz. Das schmeckt allemal besser.

 

Erschienen Frankfurter Neue Presse vom 2. Oktober 2013

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