Stau? Welcher Stau?

Haben Sie das gelesen am Montag auf unserer Titelseite? „Stauland Hessen“ lautete da die dicke Schlagzeile. Wie bitte? „Stauland Hessen“? Das kann doch gar nicht sein: Hat nicht ein früherer Ministerpräsident vor vielen Jahren ein „Staufreies Hessen 2015“ versprochen? Derselbe Ministerpräsident, der gerade von seinem Nachfolger Volker Bouffier die Wilhelm-Leuschner-Medaille für seine Verdienste um das Bundesland Hessen verliehen bekommen hat?

Sie haben es längst erkannt, liebe Leser, es geht um Roland Koch, dessen „Politik immer darauf angelegt war, für Hessen neue und innovative Lösungen zu finden“, wie Bouffier in seiner Laudatio kundtat. Und so hat Koch eben im Jahr 2005 verkündet, zehn Jahre später solle Hessen staufrei sein. Also, damit ist „Stauland Hessen“ doch widerlegt. Das kann gar nicht sein, das Thema ist doch seit zwei Jahren für beendet erklärt! Oder verbreiten wir hier nun auch schon „Fake News“, wie es ein verhaltensauffälliger Politiker auf der anderen Seite des Atlantiks der dortigen Medienlandschaft vorwirft, beziehungsweise gehören wir gar zur „Lügenpresse“, wie es hierzulande immer wieder heißt?

Nein, natürlich nicht. Selbstverständlich stimmt das mit dem „Stauland“ – wie jeder weiß, der sich insbesondere im Rhein-Main-Gebiet mit dem Auto über die Straßen quält. Und es wird immer schlimmer: Der FDP-Verkehrspolitiker im Landtag, Jürgen Lenders, rechnete jüngst vor, „120.000 Kilometer, ganze drei Mal um die Erde, stand Hessen im Jahr 2016 im Stau“. Seit 2012 habe sich die Staulänge also glatt verdoppelt. Hm, 2010 ist Koch ja bekanntlich abgetreten, ob das deswegen nicht funktioniert hat?

Im laufenden Jahr scheint sich das Drama mindestens zu wiederholen: Laut Berechnungen des ADAC Hessen-Thüringen habe es von Januar bis September bereits Staus mit einer Länge von 90.000 Kilometern gegeben. Macht 30.000 Kilometer pro Quartal, hieße bis Jahresende hochgerechnet erneut 120.000 Kilometer.

Was Lenders in Strecken belegte, wies SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel in Zeiteinheiten nach: Insgesamt 31.600 Stunden hätten die Verkehrsteilnehmer in Hessen im Jahr 2016 im Stau gestanden. Das vor Jahren versprochene staufreie Hessen sei unter der schwarzgrünen Landesregierung zu einem „staatlichen Programm für Lebenszeitvernichtung“ verkommen, schimpfte Schäfer-Gümbel.
Der im mittelhessischen Lich wohnende Sozialdemokrat spürt die vermeintliche Staufreiheit regelmäßig, wenn er morgens auf dem Weg in die Landeshauptstadt Wiesbaden ist und dabei wahlweise die A 3 oder die A 5 südwärts rollt – oder eben steht. Dabei überbrückt Schäfer-Gümbel die derart vernichtete Lebenszeit bevorzugt, in dem er sich unter dem Hashtag „#staufrei“ seinen Frust von der Seele twittert. So auch gestern morgen wieder: „Hmm, #staufrei hat sich schon mal erledigt“.

Ziel seines „visionären Projekts“ sei, so Roland Koch im Jahr 2005, dass Hessen bis 2015 in den Staumeldungen nicht mehr vorkommen solle. Gut, ich denke dies kann der geneigte Konsument von Staumeldungen nun definitiv nicht bestätigen, ellenlange Listen im Radio und Internet sprechen eine andere Sprache. Oder man lese die #Staufrei-Hilferufe aus dem Dienstwagen des SPD-Vorsitzenden Schäfer-Gümbel …

Einer, der seinerzeit auch viel zum Thema Verkehr zu sagen hatte, wusste es schon damals – also 2005 – besser. Auch wenn er als Bahn-Chef letztlich keine gute Figur abgab, widersprach Hartmut Mehdorn als damaliger Vorstandsvorsitzender des Schienenkonzerns Kochs Vision vom staufreien Hessen: „Ich glaube, dass es immer Staus geben wird.“
Zumindest damit hatte er Recht.

Erschienen Frankfurter Neue Presse vom 13. Dezember 2017

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